„So gehst du nicht aus dem Haus.“ Des Vaters Stimme war ruhig. Rosalinde lockerte behutsam ihren Griff um die Klinke der Wohnungstür bis sie sich leise zurück in ihre Ausgangsstellung hob. Das Schloss schnappte ein mit einem dünnen Klick. Der Vater lehnte in der geöffneten Wohnzimmertür. Sein zu ergrauen beginnendes Haar erschien gelblich im blassen Schein der Flurlampe. Er beugte sich hinunter und musterte Rosalindes nackte Knie: „Der Rock ist zu kurz.“
Rosalindes Hände formten sich zu einer Faust, die Daumen fest darin verschlossen. Der orangefarbene Rock entblößte drei Zentimeter Haut oberhalb der Knie. Sie presste die Lippen aufeinander. Mit der tiefen Falte über der Nasenwurzel wirkte ihr Gesicht wie ein zerknittertes Blatt. Schweigend starrte sie den Vater an und ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde. Sie verharrte, am Vater vorbeischauend, löste sich mit einem kaum merklichen Ruck und ging festen Schrittes in das der Wohnstube gegenüberliegende Zimmer. Leise schloss sie die Tür.
Das unverrückbare Urteil des Vaters stand fest. Es ermahnte Rosalinde zu bedenken, dass sie nicht für das diesseitige Leben geschaffen war, sondern für das jenseitige. Hier, auf Erden, sollte sie lediglich Früchte des Glaubens hervorbringen, die im Jenseits als Edelsteine in der himmlischen Krone funkeln werden. Diese Gewissheit nährte sich aus Bibelworten, die als dicht nebeneinander in den Boden gerammte Pfeiler das Festland der Geretteten vor dem schlüpfrigen Moorboden der Ungläubigen schützten.
Sie streifte den orangefarbenen Rock von den Hüften und betrachtete sein Leuchten. Er erinnerte sie an ein Leben, in dem es diese Pfeiler noch nicht gab, weit hinter ihr im Dunst der Vergangenheit verblasst. Ein Lächeln stahl sich in ihre nussbraunen Augen, als sie an die versunkenen Stunden der Kindheit dachte. An der Hand der Mutter tippelte sie ein wenig wackelig auf den Mäuerchen entlang des Weges, glücklich, das Gleichgewicht zu halten; sie hockte auf dem Rasen hinter dem Haus und pflückte die aufgereckten Gänseblümchen, die sich unter der mähenden Walze weg-geduckt hatten; sie reichte der Mutter die Wäscheklammern an, als diese leise summend kariertes Küchentuch und weiße Laken über die Leine warf.
Rosalinde hängte den Rock in die hinterste Ecke des Kleiderschrankes. Seine Farbe loderte auf, als ob er sie verhöhnen wolle. Sie hatte sich von ihm verführen lassen und nicht an die nackten Knie gedacht. Hastig verdeckte sie ihn mit Blusen und wollenen Westen, ergriff einen dunkelblauen Rock, der bis zur Wade reichte, und stieg hinein. Er passte eindeutig besser zu der schlichten weißen Bluse. Laue Frühsommerluft dehnte die Vorhänge des Zimmers. Rosalinde legte sich eine blaue Strickjacke über den Arm, schloss den obersten Knopf ihrer Bluse und prüfte energisch den Sitz ihrer Haarspange, die das feine braune Haar im Nacken streng zusammenband.
Der Vater wartete, noch immer in der Wohnzimmertür stehend, und schaute Rosalinde hinterher, als sie durch die Wohnungstür entschlüpfte. Es war kurz nach sieben am Sonntagabend und Rosalinde Hohmann, zwanzig Jahre alt, beeilte sich. Sie hatte eine knappe halbe Stunde zu gehen. Die Jugendstunde der Christlichen Versammlung begann um halb acht.
Der enge, weiß getünchte Raum im Hinterhof des vier-geschossigen Wohnhauses atmete Frömmigkeit. Sein einziger Schmuck, ein schlichtes Holzkreuz, etwas kleiner als das im Versammlungsraum der Erwachsenen nebenan, wachte über ihm. Ein halbhohes Regal barg Kästen mit Figuren aus buntem Filz, die während der morgendlichen Kinderstunde auf einer mit grünem Flanellstoff bespannten Tafel zu Abraham, Moses und Joseph, zu David und Goliath erwachten. Acht Holzstühle, auf deren Sitzflächen sich dünne Kissen mit artigen Schleifen an die Lehnen klammerten, reihten sich zu einem Kreis. An Wintertagen spendete ein kleiner schwarzer Kohle-ofen wohlige Wärme. Ein mit fingerdicken Eisenstäben ge-schütztes Fenster erlaubte den Blick in den Hof, ihm gegen-über führte eine Tür in den großen Raum.
Hans Weinlich saß auf der Kante seines Stuhles. Seine lichten Haare waren mit Haarwasser nach hinten gekämmt und klebten an seinem runden Schädel. Hinter der großen Hornbrille wirkten seine Augen wie Glasperlen. Mit nach oben gezogenen Mundwinkeln wartete er, bis sich die Jugend einfand. Er war neu in der Stadt. Kurz nachdem er in der Christlichen Versammlung aufgenommen worden war, erkannte er den Bedarf einer gesonderten Stunde für die sechs Heranreifenden und unterbreitete den Vorschlag, diese Aufgabe selbst zu übernehmen. Mit seinen ledigen einund-dreißig Jahren wusste er nur zu gut um die Tücken auf dem Glaubensweg junger Menschen und um die Notwendigkeit der Ermahnungen durch ältere Brüder und Schwestern.
Rosalinde öffnete die Tür und setzte sich rasch neben Paula Steinkrug. Paula klemmte die Hände unter das Stuhlkissen und bog ihre Unterschenkel um die Stuhlbeine. Sie war vor wenigen Wochen vierzehn geworden und die Jüngste in der Runde. Reiner und Thomas Hohmann fläzten auf ihren Plätzen und gähnten. Ruth Bauer, Rosalindes einzige Freundin, legte ihre Hände übereinander in den Schoß. Sie wohnte in einem Reihenhaus mit einem winzigen Stück Rasen und einer Schaukel und besaß schon als Kind großes Geschick, aus Stofffetzen zierliche Puppenröcke und -blusen und sogar Hosen zu nähen. Rosalinde hatte stets nur zottelige und verzogene Stücke zustande gebracht, die Ruth seufzend in den Müll warf. Mit gönnerhaftem Blick und flinken Händen kleidete sie Rosalindes Puppen ein. Nur selten war Ruth zu Gast bei den Hohmanns. Dort gab es keine Schaukel, keine gemusterten Stoffreste und keinen bunten Zwirn.
An Ruths Seite blickte ein Mann unter schwarzen, mittig gescheitelten Haaren entschlossen drein. Rosalinde kannte ihn nicht. Hans Weinlich räusperte sich. „Anton Rink. Er wird uns heute Abend durch die Stunde führen.“
Anton Rink, neununddreißig Jahre und Vater von sechs Kindern, war ein geschätzter Mann Gottes. Er reiste von Gemeinde zu Gemeinde und ermahnte ihre Glieder wie einst der Apostel Paulus. Rosalinde starrte auf den leeren Stuhl neben ihm. Wo war Magdalene? Rosalindes jüngere Schwester verbrachte den Nachmittag wie so oft bei ihrer Freundin Erika Schüler und kam von dort aus in die Jugendstunde. Rosalinde beobachtete die Schatten der Eisenstäbe auf den heufarbenen Teppichfliesen und das dunkler werdende Blau ihres Rockes. In wenigen Minuten würde das Licht aus der Seitengasse schwinden. Anton Rink schlug die Bibel auf. Sie knisterte.